Einleitung
Anarchistische Kritiken des Linkstums [1]
haben beinahe eine so lange Geschichte, wie der Begriff „links“ eine
politische Bedeutung hat. Die frühe anarchistische Bewegung entsprang
aus denselben Kämpfen wie andere sozialistische Bewegungen (welche einen
Großteil der politischen Linken ausmachten), von welchen sie sich
letztendlich differenzierte. Die anarchistische Bewegung und andere
sozialistische Bewegungen waren primär ein Produkt der sozialen Unruhe,
welche das Zeitalter der Revolutionen hervorrief – eingeleitet durch die
englischen, amerikanischen und französischen Revolutionen. Dies war die
historische Periode, in welcher sich der frühe Kapitalismus durch das
Umzäunen von Gemeingut zur Zerstörung der Selbstversorgung der
Gemeinden, die Industrialisierung der Produktion mit einem Fabriksystem
basierend auf wissenschaftlichen Techniken und der offensiven Expansion
der Marktwirtschaft überall auf der Welt entwickelte. Aber die
anarchistische Idee hatte immer tiefere, radikalere und das Ganze
betreffende Folgerungen, als die bloße sozialistische Kritik der
Ausbeutung von Arbeit im Kapitalismus. Dem ist so, da die anarchistische
Idee sowohl dem sozialen Ferment des Zeitalters der Revolutionen
entspringt als auch der kritischen Phantasie von Individuen, die nach
der Aufhebung jeder Form von sozialer Entfremdung und Herrschaft
streben.
Die anarchistische Idee hat eine unauslöschliche individualistische
Grundlage, auf welcher ihre sozialen Kritiken beruhen, immer und überall
verkündend, dass nur freie Individuen eine freie, nicht entfremdete
Gesellschaft erschaffen können. Genau so wichtig ist, dass diese
individualistische Grundlage die Idee beinhaltet, dass die Ausbeutung
oder Unterdrückung irgendeines Individuums, die Freiheit und Integrität
aller mindert. Das steht gänzlich im Gegensatz zu den kollektivistischen
Ideologien der politischen Linken, nach welchen das Individuum
anhaltend abgewertet, verunglimpft oder geleugnet wird, sowohl in der
Theorie als auch in der Praxis – wenn auch nicht immer in der
ideologischen Dekoration, die nur dazu dient, die Naiven zu täuschen.
Diese Grundlage hindert aufrichtige Anarchisten auch daran, den Pfad von
Autoritären der Linken, der Rechten und „der Mitte“ einzuschlagen,
welche gelegentlich Massenausbeutung, Massenunterdrückung und häufig
Massenverhaftungen oder Mord anwenden, um ihren Halt über politische und
wirtschaftliche Macht zu gewinnen, zu sichern und auszuweiten.
Weil Anarchisten verstehen, dass nur sich frei organisierende Menschen
freie Gemeinschaften erschaffen können, verweigern sie die Aufopferung
von Individuen oder Gemeinschaften bei der Verfolgung von
Machtinteressen, die zwangsläufig die Entstehung einer freien
Gesellschaft verhindern würden. Aber angesichts der gemeinsamen
Ursprünge der anarchistischen Bewegung und der sozialistischen Linken,
als auch deren historischen Kämpfe, um die Unterstützung der
internationalen Arbeiterbewegung durch verschiedene Mittel zu verführen
oder zu erbeuten, ist es nicht überraschend, dass Sozialisten im Verlauf
des 19ten und 20ten Jahrhunderts oftmals Aspekte der anarchistischen
Theorie und Praxis als ihre eigene übernommen haben, während sogar noch
mehr Anarchisten, Aspekte von linker Theorie und Praxis in verschiedene
links-anarchistische Synthesen adaptierten. Und das, obwohl die
politische Linke sich in den weltweiten Kämpfen für individuelle und
soziale Freiheit überall entweder als ein Betrug oder einen Fehler in
der Praxis erwies. Wo auch immer die sozialistische Linke im
Organisieren und Übernehmen der Macht erfolgreich war, reformierte (und
rehabilitierte) sie bestenfalls den Kapitalismus oder aber errichtete
schlimmstenfalls neue Gewaltherrschaften, viele mit mörderischer Politik
– einige mit den Proportionen von Genoziden.
Folglich, mit dem betäubenden internationalen Zerfall der politischen
Linken nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist die Zeit für alle
Anarchisten jetzt überfällig, jeden Kompromiss, der mit den
verblassenden Resten des Linkstum gemacht wurde oder immer noch gemacht
wird, zu hinterfragen. Was auch immer es für Anarchisten in der
Vergangenheit für einen Nutzen gehabt haben soll, Kompromisse mit dem
Linkstum zu machen, verfliegt mit dem progressiven Verschwinden der
Linken von sogar symbolischer Opposition zu den fundamentalen
Institutionen des Kapitalismus: Lohnarbeit, Marktproduktion und der
Herrschaft des Wertes.
Linke im Anarchistischen Milieu
Der rasante Abrutsch der politischen Linken von der geschichtlichen
Bühne ließ das anarchistische Milieu zunehmend als einziges
revolutionäres antikapitalistisches Vorhaben in der Stadt zurück.
Während das anarchistische Milieu in den letzten Jahrzehnten wie ein
Pilz aus dem Boden schoss, ging der größte Zuwachs von der unzufrieden
Jugend aus, angezogen von den zunehmend sichtbaren, lebendigen und
ikonoklastischen Aktivitäten und Presse. Aber eine bedeutende Minderheit
dieses Zuwachses kommt auch von ehemaligen Linken, welche – manchmal
eher langsam und manchmal verdächtig schnell – entschieden, dass
Anarchisten mit ihren Kritiken der politischen Autorität und des Staates
vielleicht die ganze Zeit richtig gelegen haben. Unglücklicherweise
verschwinden nicht alle Linken einfach so – oder ändern ihren Standpunkt
– über Nacht. Die meisten der ehemaligen Linken, die in das
anarchistische Milieu eintreten, bringen unvermeidlich viele der
bewussten und unbewussten linken Attitüden, Vorurteile, Gewohnheiten und
Annahmen mit sich, die ihre alten politischen Milieus strukturierten.
Allerdings sind nicht alle dieser Attitüden, Gewohnheiten und Annahmen
unbedingt autoritär oder anti-anarchistisch, aber ebenso deutlich sind
viele es.
Teil des Problems ist es, dass viele der ehemaligen Linken dazu neigen,
den Anarchismus nur als eine Form eines anti-staatlichen Linkstums
misszuverstehen, so seine unauslöschliche individualistische Grundlage
als unbedeutend für soziale Kämpfe ignorierend oder herunterspielend.
Viele verstehen ganz einfach den gravierenden Unterschied zwischen einer
selbst-organisierten Bewegung, die jede Form von sozialer Entfremdung
überwinden will, und einer lediglich politischen Bewegung nicht, die
nach einer Reorganisierung der Produktion in einer egalitäreren Form
strebt. Während andere den Unterschied sehr wohl verstehen, aber
trotzdem versuchen, das anarchistische Milieu aus unterschiedlichen
Gründen zu einer politischen Bewegung zu reformieren. Einige ehemalige
Linke machen dies, weil sie die Abschaffung von sozialer Entfremdung für
unwahrscheinlich oder unmöglich halten; einige weil sie weiterhin
grundsätzlich jeder individualistischen (oder sexuellen, oder
kulturellen etc.) Komponente der sozialen Theorie und Praxis
entgegenstehen. Manche realisieren zynisch, dass sie niemals eine
Machtposition in einer aufrichtigen anarchistischen Bewegung erlangen
werden und entscheiden sich dazu, eingeengtere politische Organisationen
mit mehr Raum für Manipulationen aufzubauen. Wieder andere, dem
autonomen Denken und Handeln nicht vertraut, fühlen sich ganz einfach
verängstigt und unwohl mit vielen Aspekten der anarchistischen Tradition
und wünschen sich, jene Aspekte der Linken in das anarchistische Milieu
zu drängen, die ihnen helfen, sich weniger bedroht und sicherer zu
fühlen – sodass sie weiterhin ihre ehemaligen Rollen des Kaders oder
Militanten spielen können, nur ohne eine explizit autoritäre Ideologie,
um sie zu leiten.
Um aktuelle Kontroversen innerhalb des anarchistischen Milieus verstehen
zu können, müssen Anarchisten immerfort gewarnt – und aufmerksam
kritisch – gegenüber alledem bleiben. Auf Menschen bezogene Angriffe
innerhalb des anarchistischen Milieus sind nichts neues und meistens
eine Zeitverschwendung, da sie rationale Kritik an den tatsächlichen
Positionen, die Menschen innehaben, ersetzen. (Zu oft wird die rationale
Kritik von Positionen schlicht von denjenigen, die nicht fähig sind,
für ihre eigenen Positionen zu argumentieren und deren einzige Zuflucht
stürmische oder irrelevante Anschuldigungen oder versuchte Verleumdungen
sind, ignoriert.) Aber es bleibt eine wichtige Stelle für auf Menschen
bezogene Kritiken, gerichtet an die von Menschen gewählten Identitäten,
besonders wenn diese Identitäten so stark sind, dass sie abgelagerte,
oft unbewusste Ebenen von Gewohnheiten, Vorurteilen und Abhängigkeiten
mit einschließen. Diese Gewohnheiten, Vorurteile und Abhängigkeiten –
linke oder sonstige – stellen alle höchst geeignete Ziele für
anarchistische Kritik dar.
Rekuperation [2] und der linke Flügel des Kapitals
Historisch funktionierte der Großteil linker Theorie und Praxis als eine
loyale Opposition zum Kapitalismus. Linke standen einzelnen Aspekten
des Kapitalismus (oft lautstark) kritisch gegenüber, aber immer dazu
bereit, sich selbst in Einklang mit dem breiteren internationalen
kapitalistischen System zu bringen, wann auch immer es ihnen möglich
war, ein bisschen Macht, partielle Reformen – oder manchmal nur das vage
Versprechen von partiellen Reformen – zu gewinnen. Aus diesem Grund
wurden Linke, oft ziemlich gerechtfertigt (von sowohl Linksradikalen als
auch von Anarchisten) als der linke Flügel des Kapitals kritisiert.
Es ist nicht nur ein Problem, dass diese Linken, die behaupten,
anti-kapitalistisch zu sein, es nicht wirklich so meinen, obwohl einige
diese Lügen bewusst eingesetzt haben, um Machtpositionen für sich selbst
in Oppositionsbewegungen zu erlangen.
Das Hauptproblem ist, dass Linke unvollständige, sich selbst
widersprüchliche Theorien über Kapitalismus und soziale Veränderung
haben. Als ein Resultat daraus neigt ihre Praxis zur Rekuperation (oder
Mit-Beteiligung und Reintegration) von sozialer Rebellion. Linke nutzen
eine Vielzahl an Taktiken, immer mit dem Fokus auf Organisation, in
ihren Versuchen, soziale Kämpfe zu verdinglichen und zu mediatisieren
[A.d.Ü.: Erläuterung der beiden Begriffe folgt] – Repräsentation und
Vertretung, Auferlegung kollektiver Ideologien und kollektiver Moral und
letztendlich repressive Gewalt in der einen oder anderen Form.
Normalerweise haben Linke all diese Taktiken auf die sturste
ungeschickte und explizit autoritäre Art und Weise angewendet. Aber
diese Taktiken (bis auf die letzte) können auch – und wurden auch oft –
auf eine subtilere weniger offenkundige Art und Weise genauso angewendet
werden; die wichtigsten Beispiele für unsere Zwecke sind die
historischen und heutigen Methoden vieler (aber nicht aller) linken
Anarchisten.
Verdinglichung wird oft allgemein als „Vergegenständlichung“
beschrieben. Es ist das Reduzieren eines komplexen, lebenden Prozesses
zu einer gefrorenen, toten oder mechanischen Ansammlung von Gegenständen
oder Handlungen [3].
Politische Mediation (eine Form von praktischer Verdinglichung) ist der
Versuch, in Konflikte als ein dritte Partei-Schlichter oder
-repräsentant zu intervenieren [um zu einer Vereinbarung zu kommen und
den Konflikt beilegen zu können; A.d.Ü.]. Im Grunde genommen sind dies
die eindeutigen Merkmale aller linken Theorie und Praxis. Linkstum
beinhaltet immer die Verdinglichung und Mediation sozialer Revolten,
während konsequente Anarchisten diese Verdinglichung der Revolte
ablehnen. Die Formulierung von post-linker Anarchie ist ein Versuch,
diese Ablehnung der Verdinglichung der Revolte beständiger,
weitverbreiteter und seiner selbst bewusster zu machen, als sie bereits
ist.
Anarchie als Theorie und Kritik der Organisationen
Eine der fundamentalsten Prinzipien des Anarchismus ist, dass soziale
Organisation freien Individuen und freien Gruppen dienen muss und nicht
andersherum. Anarchie kann nicht existieren, wenn Individuen oder
soziale Gruppen beherrscht werden – egal ob diese Herrschaft durch
äußere Kräfte oder durch ihre eigene Organisation erleichtert und
verstärkt wird. Für Anarchisten war die zentrale Strategie von
angehenden Revolutionären die nicht mediatisierende (anti-autoritäre,
oftmals informell oder minimalistische) Selbstorganisation der Radikalen
(basierend auf Affinität und/ oder spezifischen theoretischen/
praktischen Aktivitäten), um die Selbstorganisation der weit
verbreiteten Rebellion und des Aufstands gegen Kapital und Staat in all
ihren Formen zu ermutigen und darin teilzunehmen. Sogar unter linken
Anarchisten gab es zumindest immer ein gewisses Verständnis davon, dass
mediatisierende Organisationen bestenfalls höchst labil und unvermeidbar
offen für Rekuperation sind, während konstante Wachsamkeit und Kämpfe
nötig sind, um ihre komplette Rekuperation zu vermeiden.
Andererseits ist aber für alle Linken (linke Anarchisten eingeschlossen)
die zentrale Strategie immer, ausdrücklich auf die Kreation
mediatisierender Organisationen zwischen Kapital und Staat auf der einen
Seite und der Masse der Unzufriedenen, relativ machtlosen Leute auf der
anderen Seite, fokussiert. Gewöhnlich waren jene Organisationen auf das
Mediatisieren zwischen Kapitalisten und Arbeitern oder zwischen dem
Staat und der Arbeiterklasse fokussiert. Aber viele andere Mediationen,
eingeschlossen der Opposition zu bestimmten Institutionen oder
eingeschlossen Interventionen zwischen bestimmten Gruppen (sozialen
Minderheiten, Untergruppen der Arbeiterklasse, etc.), sind üblich
geworden.
Diese mediatisierenden Organisationen enthielten politische Parteien,
syndikalistische Vereinigungen, politische Massenorganisationen,
Frontgruppen, Ein-Thema Kampagnen Gruppen etc. Ihre Ziele sind immer,
bestimmte Aspekte der generelleren sozialen Revolte in festgesetzte
Formen der Ideologie und deckungsgleiche Formen der Aktivität zu
kristallisieren und erstarren zu lassen. Die Konstruktion von formellen,
mediatisierenden Organisationen schließt immer und notwendigerweise
zumindest ein gewisses Maß von folgendem ein:
– Reduktionismus
(Nur einzelne Aspekte des sozialen Kampfes sind in diesen Organisationen
beinhaltet. Andere Aspekte werden ignoriert, entkräftigt oder
unterdrückt, was zu immer weiterer Auf-Fächerung des Kampfes führt.
Welche wiederum Manipulation durch Eliten und ihre eventuelle
Transformation in reine reformistische von jeder generalisierten,
radikalen Kritik entleerten Lobby-Gesellschaften erleichtert.)
– Spezialisierung oder Professionalisierung
(Jene am meisten eingebundenen in tägliche Operationen der Organisation
werden ausgewählt – oder selbst-gewählt – um zunehmend spezialisierte
Rollen innerhalb der Organisation zu erfüllen, was oft zu einer
offiziellen Teilung zwischen Leitenden und Geleiteten führt, mit in Form
von zwischengeschalteten Rollen, in der sich entwickelnden
organisatorischen Hierarchie eingeleiteten Abstufungen von Macht und
Einfluss.)
– Vertretung
(Eher als die Menschen-in Revolte wird die formelle Organisation
zunehmend der Fokus von Strategie und Taktik. In Theorie und Praxis
neigt die Organisation fortschreitend dazu, die Leute zu vertreten; die
Organisationsleitung – besonders wenn sie formell geworden ist – neigt
dazu, die Organisation als ein Ganzes zu vertreten, und schließlich
zeichnet sich oft ein/e maximale Leiter/ Leitung ab, der/ die dabei
endet, die Organisation zu verkörpern und zu kontrollieren.)
– Ideologie
(Eher als Leute, die ihre eigenen Selbst-Theorien [A.d.Ü.: was der Autor
unter Selbst-Theorien versteht, wird im Verlauf des Textes erklärt]
konstruieren, wird die Organisation mit zu spielenden zugeordneten
Rollen der vordergründige Gegenstand der Theorie. Alle bis auf die sich
selbst bewusstesten anarchistischen formellen Organisationen neigen
dazu, eine Art kollektiver Ideologie zu adaptieren, in welcher der
sozialen Gruppe zugestimmt wird, mehr politische Realität als freie
Individuen zu haben. Wo auch immer Oberhoheit liegt, da liegt politische
Autorität; wenn Oberhoheit nicht in allen jeweiligen Personen aufgelöst
wird, benötigt sie immer die Unterwerfung von Individuen unter eine
Form von Gruppe.)
Alle anarchistischen Theorien der Selbstorganisation rufen im Gegenteil
(auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Betonungen) nach :
– Autonomie von Individuen und Gruppen mit freier Initiative
(Das autonome Individuum ist die grundlegende Basis aller echten
anarchistischen Theorien der Organisation, da ohne das autonome
Individuum jegliche andere Stufe der Autonomie unmöglich ist. Freiheit
der Initiative ist ebenso grundlegend für Individuen wie auch Gruppen.
Ohne höhere Mächte entsteht die Fähigkeit und Notwendigkeit für alle
Entscheidungen am Punkt ihrer unmittelbaren Auswirkung gefällt zu
werden. Als Randnotiz: Poststrukturalisten oder Postmodernisten, die die
Existenz von autonomen anarchistischen Individuen verneinen,
missverstehen meist die gültige Kritik eines metaphysischen Subjekts, um
zu implizieren, dass sogar der Prozess gelebter Subjektivität eine
komplette Fiktion ist – eine selbst-getäuschte Perspektive, welche
soziale Theorie unmöglich und unnötig machen würde.)
– Freie Assoziation
(Assoziation ist nie frei, wenn sie erzwungen ist. Das heißt, dass
Menschen frei sind sich mit allen in jeder Kombination, die sie
wünschen, zu assoziieren und zu dissoziieren oder ebenso Assoziation zu
verweigern.)
– Ablehnung von politischer Autorität und deswegen von Ideologie
(Das Wort „Anarchie“ heißt wörtlich keine Herrschaft oder kein
Herrscher. Keine Herrschaft und kein Herrscher, beides heißt, dass es
keine politische Autorität über den Leuten selbst gibt, die für sich
selbst Entscheidungen, wie auch immer sie sie als passend ansehen,
machen können und sollten. Die meisten Formen der Ideologie
funktionieren, um die Autorität der einen oder anderen Elite oder
Institution zu legitimieren, um Entscheidungen für Leute zu machen oder
aber sie dienen dazu, die eigene Entscheidungsfähigkeit der Leute für
sich selbst zu deligitimieren.)
– Kleine, einfache, informelle, transparente und temporäre Organisation
(Die meisten Anarchisten stimmen zu, dass kleine von
Angesicht-zu-Angesicht-Gruppen die vollständigste Partizipation mit dem
wenigsten Umfang unnötiger Spezialisierung erlauben. Die einfachsten
strukturierten Gruppen und am wenigsten komplexen Organisationen
hinterlassen die kleinste Möglichkeit für die Entwicklung von Hierarchie
und Bürokratie. Informelle Organisation ist die am leichtesten
verständliche und fähigste, um sich selbst neuen Bedingungen anzupassen.
Offene und transparente Organisation wird am einfachsten von ihren
Mitgliedern verstanden und kontrolliert. Je länger Organisationen
existieren, desto anfälliger werden sie gewöhnlich für die Entwicklung
von Starrheit, Spezialisierung und eventuell Hierarchie. Organisationen
haben Lebensspannen und es ist rar, dass irgendeine Organisation wichtig
genug sein wird, so dass sie über Generationen hinweg existieren
sollte.
– Dezentralisierte, föderale Organisation mit direkter Entscheidungsfindung und Respekt für Minderheiten
(Wenn sie notwendigerweise größer sind, können komplexere und formellere
Organisationen nur selbst-lenkbar von ihren Beteiligten bleiben, wenn
sie dezentral und föderal sind. Wenn von-Angesicht-zu-Angesicht-Gruppen –
mit der Möglichkeit für volle Beteiligung und gesellige Diskussion und
Entscheidungsfindung – infolge der Größe unmöglich werden, ist der beste
Kurs die Organisation mit vielen kleineren Gruppen in eine föderale
Struktur zu dezentralisieren. Oder wenn kleinere Gruppen sich mit
Gruppen ihresgleichen organisieren müssen, um Probleme großen Umfangs
besser anzusprechen, wird freie Föderation bevorzugt – mit absoluter
Selbstbestimmung auf jeder Ebene beginnend mit der Basis. Solange
Gruppen eine überschaubare Größe behalten, müssen Versammlungen aller
Betroffenen fähig sein, direkte Entscheidungen, entsprechend mit welchen
Methoden auch immer sie einverstanden sind, zu machen. Jedoch können
Minderheiten niemals zu Übereinstimmung mit Mehrheiten auf der Basis
irgendeiner fiktiven Konzeption von Gruppenoberhoheit gezwungen werden.
Anarchie ist nicht direkte Demokratie, obwohl Anarchisten sicherlich
wählen können, demokratische Methoden zur Entscheidungsfindung zu
benutzen, wann und wo sie wünschen. Der einzige richtige Respekt für
Minderheitenmeinungen beinhaltet die Akzeptanz, dass Minderheiten die
selbe Kraft wie Mehrheiten haben, was Verhandlungen und das größte
Niveau von gegenseitigem Einverständnis für beständige, effektive
Gruppen-Entscheidungsfindungen erfordert.)
Letztendlich ist der größte Unterschied, dass Anarchisten
Selbstorganisation verfechten, während Linke dich organisieren wollen.
Für Linke ist die Betonung immer auf der Rekrutierung für ihre
Organisationen, so dass du die Rolle eines ihren Zielen dienenden Kaders
annehmen kannst. Sie wollen dich nicht sehen, wie du dir deine eigene
selbstbestimmte Theorie und Aktivitäten aneignest, denn dann würdest du
ihnen nicht erlauben dich zu manipulieren. Anarchisten wollen, dass du
deine eigene Theorie und Aktivität bestimmst und deine Handlungen mit
Gleichgesinnten selbst organisierst. Linke wollen ideologische,
strategische und taktische Einheit, wenn möglich durch „Selbstdisziplin“
(deine Selbstunterdrückung) und wenn nötig durch organisatorische
Disziplin (Gefahr durch Sanktionen), kreieren. So oder so wird von dir
erwartet, deine Autonomie aufzugeben um ihren heteronormen Pfad, der
bereits für dich abgesteckt wurde, zu folgen.
Anarchie als Theorie und Kritik der Ideologie
Die anarchistische Kritik der Ideologie reicht auf das Werk von Max
Stirner zurück, obwohl er selbst nicht den Ausdruck verwendete, um seine
Kritik zu beschreiben. Ideologie ist das Mittel durch welches
Entfremdung, Herrschaft und Ausbeutung durch die Verunstaltung des
menschlichen Gedanken und der Kommunikation alle rationalisiert und
gerechtfertigt werden. Jede Ideologie beinhaltet im Wesen die Ersetzung
von fremden (oder lückenhaften) Konzepten oder Bildern für menschliche
Subjektivität. Ideologien sind Systeme des falschen Bewusstsein, in
welchen Leute sich selbst nicht mehr direkt als Subjekte in ihrer
Beziehung zu ihrer Welt sehen. Anstelle dessen begreifen sie sich in
einer bestimmten Weise als untergeordnet zu einer oder der anderen Art
eines abstrakten Gebildes oder den Gebilden, welche als wirkliche
Subjekte oder Akteure verkannt werden.
Immer wenn irgendein System von Ideen und Pflichten mit einer
Abstraktion als Mittelpunkt strukturiert ist – seinetwegen Leute, Rollen
oder Pflichten bestimmend – ist ein solches System eine Ideologie. All
die verschiedenen Formen der Ideologie sind rund um verschiedene
Abstraktionen strukturiert, dennoch dienen sie alle immer den Interessen
von hierarchischen und entfremdenden sozialen Strukturen, da sie im
Bereich von Gedanke und Kommunikation Hierarchie und Entfremdung sind.
Sogar wenn eine Ideologie sich rhetorisch in ihrem Inhalt Hierarchie
oder Entfremdung entgegen stellt, bleibt ihre Form immer noch
übereinstimmend mit dem, dem sie sich vorgeblich entgegenstellt, und
diese Form wird immer dazu neigen, den offensichtlichen Inhalt der
Ideologie zu untergraben. Egal ob die Abstraktion Gott, der Staat, die
Partei, die Organisation, Technologie, die Familie, Menschheit, Frieden,
Ökologie, Natur, Arbeit, Liebe oder sogar Freiheit ist; wenn sie als
ein aktives Subjekt mit einem eigenen Wesen verstanden und präsentiert
wird, welches Anspruch auf uns erhebt, dann ist sie der Mittelpunkt
einer Ideologie. Kapitalismus, Individualismus, Kommunismus, Sozialismus
und Pazifismus sind jeweils so wie sie gewöhnlich begriffen werden in
wichtiger Hinsicht ideologisch. Religion und Moral sind immer durch ihre
eigentlichen Definition ideologisch. Sogar Widerstand, Revolution und
Anarchie nehmen oft ideologische Dimensionen an, wenn wir nicht
vorsichtig sind, ein kritisches Bewusstsein zu behalten, wie wir denken
und was die tatsächlichen Absichten unserer Gedanken sind. Ideologie ist
beinahe allgegenwärtig. Von Anzeigen und Werbungen zu akademischen
Abhandlungen und wissenschaftlichen Studien ist beinahe jeder Aspekt
gegenwärtigen Denkens und gegenwärtiger Kommunikation ideologisch, und
die wahre Bedeutung für menschliche Subjekte ist unter Schichten von
Mystifikationen und Verwirrung verloren. Linkstum als die Verdinglichung
und Mediation der sozialen Rebellion ist immer ideologisch, da es immer
fordert, dass sich Leute zu aller erst in Form ihrer Rollen und
innerhalb ihrer Beziehungen zu linken Organisationen und unterdrückten
Gruppen begreifen, welche wiederum realer als die Individuen verstanden
werden, die sich zusammenschließen um sie zu kreieren. Für Linke wird
Geschichte niemals von Individuen gemacht, sondern eher von
Organisationen, sozialen Gruppen und – für Marxisten vor allem von –
sozialen Klassen. Jede große linke Organisation formt gewöhnlich ihre
eigene ideologische Legitimation, deren Hauptpunkte nach Erwartung von
allen Mitgliedern gelernt und verteidigt, wenn nicht zum Missionieren
verwendet werden. Diese Ideologie ernsthaft zu kritisieren oder zu
hinterfragen, heißt immer, den Ausschluss von der Organisation zu
riskieren.
Post-linke Anarchisten lehnen alle Ideologien zu Gunsten der
individuellen und kommunalen Selbst-Theorie ab. Individuelle
Selbst-Theorie ist Theorie, in welcher das integrale Individuum im
Kontext (in all seinen oder ihren Beziehungen, mit all seiner oder ihrer
Geschichte, Bedürfnissen und Projekten etc.) immer der subjektive
Mittelpunkt der Wahrnehmung, des Verständnis‘ und der Aktion ist.
Kommunale Selbst-Theorie beruht ebenso auf der Gruppe als Subjekt, aber
immer mit einem grundlegenden Bewusstsein von den Individuen (und ihren
eigenen Selbst-Theorien), welche die Gruppe oder Organisation
vervollständigen. Nicht-ideologische, anarchistische Organisationen
(oder informelle Gruppen) basieren immer explizit auf der Autonomie der
Individuen, die sie konstruieren, im Gegensatz zu linken Organisationen,
welche den Verzicht auf persönliche Autonomie als Voraussetzung für
Mitgliedschaft benötigen.
Weder Gott, noch Herrscher, noch moralische Ordnung: Anarchie als Kritik der Moral und des Moralismus
Die anarchistische Kritik der Moral rührt auch von Stiners Meisterwerk Der Einzige und sein Eigentum
(1844) her. Moral ist ein System der verdinglichten Werte – abstrakte
Werte, welche aus irgendeinem Kontext gerissen, in Stein gemeißelt und
umgeformt zu unhinterfragbaren Überzeugungen werden, die ohne Rücksicht
auf die tatsächlichen Bedürfnisse, Gedanken oder Ziele und ungeachtet
der Situation, in welcher sich eine Person befindet, angewendet werden
sollen. Moralismus ist die Praxis davon, nicht nur lebendige Werte auf
verdinglichte Moral zu reduzieren, sondern auch davon, sich selbst
besser als andere zu betrachten, da man sich selbst der Moral
unterworfen hat (Selbstgerechtigkeit), und davon, für die Aneignung der
Moral als Werkzeug der sozialen Veränderung zu missionieren.
Oft, wenn die Augen der Leute von Skandalen oder Desillusionierungen
geöffnet werden und sie beginnen, unter der Oberfläche der Ideologien
und aufgenommenen Ideen zu graben, die sie all ihr Leben für garantiert
gehalten haben, kann die scheinbare Kohärenz und Kraft der neuen von
ihnen gefundenen Antwort (egal ob in der Religion, dem Linkstum oder
sogar dem Anarchismus) sie dazu führen zu glauben, dass sie jetzt Die
(mit großem ‚D‘) Wahrheit gefunden haben. Sobald dies beginnt zu
passieren, steuern Leute allzu oft auf den Weg des Moralismus, mit
seinen begleitenden Problemen wie Elitedenken und Ideologie. Sobald
Leute der Illusion erliegen, dass sie Die eine Wahrheit gefunden haben,
die alles reparieren würde – wenn nur genug andere Leute auch dies auch
verstehen würden – ist die Versuchung dann, diese eine Wahrheit als die
Lösung für das beinhaltete Problem zu sehen um welches Theorien
aufgestellt werden müssen, was sie dazu führt, ein absolutes Wertesystem
in Verteidigung ihrer magischen Lösung für das Problem auf das diese
Wahrheit sie hinweist, zu erbauen. An diesem Punkt nimmt Moralismus den
Platz von kritischen Denken ein.
Die verschiedenen Formen des Linkstum bekräftigen verschiedene Arten von
Moral und Moralismus, aber innerhalb des Linkstums ist es normalerweise
Das Problem, dass Leute von Kapitalisten ausgebeutet werden (oder von
ihnen beherrscht, oder entfremdet von der Gesellschaft oder vom
Produktionsprozess etc.). Die Wahrheit ist, dass Leute die Kontrolle
über die Ökonomie (und/oder die Gesellschaft) in ihre eigene Hände
nehmen müssen. Die größte Hürde hierfür ist der Besitz und die Kontrolle
der Produktionsmittel von der kapitalistischen Klasse, gesichert durch
ihr Monopol auf die Benutzung legalisierter Gewalt durch ihre Kontrolle
des politischen Staates. Um dies zu überwinden, muss den Leuten mit
evangelischer Inbrunst entgegengetreten werden um sie zu überzeugen alle
Aspekte, Ideen und Werte des Kapitalismus abzulehnen und die Kultur,
Ideen und Werte von einer idealisierten Vorstellung der Arbeiterklasse
zu übernehmen, um durch das Brechen der Macht der kapitalistischen
Klasse und der Konstituierung der Macht der Arbeiterklasse (oder ihrer
repräsentativen Institutionen, wenn nicht ihrer Zentralkomitees oder
Oberhäupte) in jedem Aspekt der Gesellschaft die Produktionsmittel zu
übernehmen… Dies führt oft zu mancher Art des Operaismus [4]
(gewöhnlich die Übernahme des herrschenden Bildes der Kultur der
Arbeiterklassen, in anderen Worten, Arbeiterklassen-Lifesytle
eingeschlossen), ein Glaube in (gewöhnlich wissenschaftliche)
organisatorische Erlösung, Glaube an die Wissenschaft des
(unvermeidbaren Sieges des Proletariats im) Klassenkampf(es) etc. Und
deswegen Taktiken vereinbar mit der Bildung der fetischisierten Einen
Wahren Organisation der Arbeiterklasse, um für ökonomische oder
politische Macht zu kämpfen. Ein ganzes Wertesystem ist rund um eine
besondere, höchst vereinfachte Konzeption der Welt konstruiert und
moralische Kategorien von gut und böse werden für eine kritischen
Evaluation hinsichtlich individueller und kommunaler Subjektivität
ersetzt.
Das Absinken in Moralismus ist niemals ein automatischer Prozess. Es ist
eine Tendenz, welche sich normalerweise selbst manifestiert, wann auch
immer Leute den Pfad der verdinglichten sozialen Kritik einschlagen.
Moral schließt immer die entgleisende Entwicklung einer einheitlichen
Theorie des Selbst und der Gesellschaft ein. Sie schließt die
Entwicklung von einer für diese kritische Theorie geeignete Strategie
und Taktik kurz, bestärkt die Betonung auf persönliches und kollektives
Heil durch ein Leben nach den Idealen dieser Moral, in dem sie eine
Kultur oder einen Lifestyle als tugendhaft und erhaben idealisiert,
während sie alles andere als entweder die Verlockung oder die Perversion
des Bösen dämonisiert. Eine unvermeidbare Betonung wird dann die
kleinliche, kontinuierliche Bestrebung, die Grenzen der Tugend und des
Bösen durch das Kontrollieren der Leben von allen, die behaupten
Mitglieder der In-Group zu sein und der selbstgerechten Denunzierung der
Out-Group, zu stärken. Im operaistischen Milieu heißt dies zum Beispiel
jeden anzugreifen, der keine Loblieder auf die Tugenden der
Arbeiterklassenorganisation singt (und besonders auf die Tugenden der
Einen wahren Form der Organisation), oder auf die Tugenden des
dominanten Bildes der Arbeiterklassenkultur oder Lebensstile (sei es
Bier zu trinken anstatt Wein zu trinken, angesagte Subkulturen
abzulehnen oder Ford oder Chevy anstatt BMWs oder Volvos zu fahren). Das
Ziel ist natürlich, die Linien der Inklusion und Exklusion zwischen
In-Groups und Out-Groups beizubehalten (die Out-Group wird oft
verschiedenartig in hoch industrialisierten Ländern als die Mittel- und
Oberschicht oder als Petit Bourgeois oder als große und kleine Manager
porträtiert).
Nach der Moral zu leben heißt, bestimmte Bedürfnisse und Versuchungen
(ungeachtet der aktuellen Situation in der du dich vielleicht selbst
befindest) zu Gunsten der Vergütungen der Tugend aufzuopfern. Iss
niemals Fleisch. Fahr niemals SUVs. Arbeite niemals von 9 bis 5.
Schnorre niemals. Wähle niemals. Rede niemals mit einem Bullen. Nimm
niemals Geld von der Regierung. Zahl niemals Steuern etc. etc. Kein sehr
attraktiver Weg durch sein Leben zu gehen für irgendjemanden, der in
kritischem Denken über die Welt und der Beurteilung, was für einen
selbst zu tun ist, interessiert ist.
Die Ablehnung der Moral schließt die Konstruktion einer kritischen
Theorie von einem selbst und der Gesellschaft ein (immer selbstkritisch,
provisorisch und niemals totalitär), in welcher ein klares Ziel der
Beendung seiner sozialen Entfremdung niemals mit verdinglichten
partiellen Zielen verwechselt wird. Sie umfasst die Betonung dessen, was
Leute von radikaler Kritik und Solidarität erlangen, anstelle dessen,
was Leute opfern oder aufgeben müssen, um tugendhafte Leben der
politisch korrekten Moral zu leben.
Post-linke Anarchie: Weder links, noch rechts, sondern autonom
Post-linke Anarchie ist nichts neues oder anderes. Sie ist weder ein
politisches Programm, noch eine Ideologie. Sie ist in keiner Art
beabsichtigt eine neue Gattung der Fraktion oder Sekte innerhalb des
generelleren anarchistischen Milieus zu konstituieren. Sie ist auf
keinen Fall eine Öffnung zur politischen Rechten; die Rechte und die
Linke hatten immer schon mehr gemeinsam als einer der beiden gemeinsam
mit dem Anarchismus hat. Und sie ist bestimmt nicht als eine neue Ware
auf dem überfüllten Marktplatz der pseudo-radikalen Ideen beabsichtigt.
Sie ist schlicht als Neuformulierung der fundamentalsten und wichtigsten
anarchistischen Positionen innerhalb des Kontexts einer zerfallenden
internationalen politischen Linken beabsichtigt.
Wenn wir vermeiden wollen, mit dem Wrack des zerbröckelnden Linkstums
heruntergezogen zu werden, müssen wir uns vollständig, bewusst und
explizit von seinen mannigfaltigen Fehlern trennen – und besonders von
den gebrechlichen Voraussetzungen des Linkstums, welche zu diesen
Fehlern führen. Das heißt nicht, dass es unmöglich für Anarchisten ist,
sich auch als Linke zu betrachten – es hat eine lange, meist ehrenwerte
Geschichte von anarchistischen und linken Synthesen gegeben. Aber das
heißt, dass es in unser gegenwärtigen Situation für niemanden möglich
ist – sogar für linke Anarchisten – die Konfrontation mit dem Fakt, dass
die Fehler des Linkstums in der Praxis eine komplette Kritik des
Linkstums und einen expliziten Bruch mit jedem in seinen Fehlern
implizierten Aspekt des Linkstums, zu vermeiden.
Linke Anarchisten können nicht länger vermeiden, ihr eigenes Linkstum
intensiver Kritik zu unterziehen. Von diesem Punkt an ist es schlicht
nicht ausreichend (nicht, dass es jemals so war) all die Fehler des
Linkstums auf die am eindeutigsten widerwärtigen Variationen und
Episoden linker Praxis wie Leninismus, Trozkismus und Stalinismus zu
projizieren. Die Kritiken an linker Staatlichkeit und linker
Parteiorganisation sind immer nur die Spitze einer Kritik gewesen, die
nun den ganzen Eisberg des Linkstums umfassen muss, jene oft lange in
die Traditionen anarchistischer Praxis miteinbezogenen Aspekte
eingeschlossen. Jede Verweigerung, die Kritik des Linkstums zu erweitern
und zu vertiefen, konstituiert die Weigerung, sich mit der für
authentisches Selbst-Verständnis notwendigen Selbst-Prüfung zu befassen.
Und verbissenes Meiden von Selbst-Verstehen kann niemals von jemandem
nach radikaler sozialer Veränderung strebend gerechtfertigt werden.
Wir haben nun die unvergleichbare historische Möglichkeit zusammen mit
einer Fülle an kritischen Mitteln eine internationale anarchistische
Bewegung neu zu erschaffen, die auf ihren eigen Füßen steht und sich vor
keiner anderen Bewegung verbeugt. Alles, was bleibt, ist für alle von
uns, diese Möglichkeit wahrzunehmen um unsere anarchistischen Theorien
kritisch wieder zu formulieren und unsere anarchistische Praxis im Licht
unserer fundamentalsten Verlangen und Ziele wieder zu erfinden.
Verweigere die Verdinglichung der Revolte. Das Linkstum ist tot! Lang lebe die Anarchie!
[1] A.d.Ü.: Aus Mangel an einer passenden Übersetzung des Begriffs leftism
wird im Folgenden „Linkstum“ verwendet, um das theoretische Gebilde der
Linken zu bezeichnen. Wir sind uns bewusst, dass dieses Linkstum in den
USA – das Thema dieses Textes – nicht identisch mit den
Erscheinungsformen eines deutschsprachigen Linkstums ist. Trotzdem gehen
wir davon aus, dass die dem Linkstum zu Grunde liegende Theorien und
Methoden über Grenzen, Jahrzehnte und einen selbst titulierten
Pluralismus (der an sich eine zu tiefst demokratische Toleranz von
inneren Widersprüchen und Konflikten ist) hinweg vergleichbar und
kohärent sind. In dem hier nicht übersetzten Prolog des Textes geht der
Autor auf den amerikanischen Kontext ein und erklärt, dass eines der
größten Probleme zeitgenössischer Anarchisten die Fixierung auf
vergangene Kämpfe und der Versuch ist, diese neu zu beleben. Da die
Mehrheit der großen anarchistischen Theoretiker dem 19. Jahrhundert und
frühen 20. Jahrhundert entstammen, existiert seit der Wiederbelebung des
anarchistischen Milieus in den 1960ern ein Defizit an adäquater
Neuformulierung einer dem veränderten Terrain angemessenen kraftvollen
Theorie und Praxis.
[2] A.d.Ü.: Vereinnahmung, Wiedererlangung [durch die Autorität; in diesem Kontext], Wiedergewinnung.
[3]
A.d.Ü.: Da mir die Verwendung des Begriffs Verdinglichung (auch
Vergegenständlichung oder Reifikation) recht ungewöhnlich erscheint,
hier eine weitere Erläuterung um Missverständnisse vorzubeugen:
Verdinglichung heißt feste, abstrakte und hypothetische Konzepte nicht
mehr als Abstraktion und Beschreibung menschlicher Aktivität, also als
menschliches Produkt, zu verstehen, sondern als Realität. So nehmen die
Konzepte den Platz dessen ein, was sie eigentlich theoretisieren sollen.
[4] A.d.Ü.: Operaismus bezeichnet sowohl eine marxistische Strömung als auch eine soziale Bewgung, die in den frühen 1960er Jahren im industriellen Norditalien entstanden ist und sich vor allem mit der Subjektivität der Arbeiter und deren Kampf gegen die Arbeit beschäftigt. Auch wenn diese Fabrik-fixierte Theorie die frühen deutschen Autonomen prägte, scheint mir der hier beschrieben operaistische Moralismus kaum noch in der neuen deutschen Linken präsent. Dies mag daran liegen, dass das linke Milieu kaum (noch) Überschneidungen mit proletarisierten Schichten hat und noch mehr von akademischen Diskursen geprägt wird. Um die vom Autor dargelegte Kritik eines linken Moralismus nachzuvollziehen, brauch man nur an aktuellere moralistische Symptome wie „political corectness“ oder „critical whiteness“ denken: Anstatt auf ein radikales Hinterfragen und Möglichkeiten des Angriffs abzuzielen, sind diesen Ideologien weit mehr daran interessiert auf ein gewisses Schuldgefühl und individuelle Privilegien aufbauend feste pauschalisierende Kategorien zu installieren, fixe Formen von gutem und schlechtem Verhalten festzulegen und so eine kollektive Kontrolle durch sich selbst oder gar durch bestimmte Repräsentanten und Bewegungsmanager aufzubürden, die von Kritik durch die Autorität eines de-personalisierten und stereotypen unterdrückten Anderen geschützt sind.
https://anarchistischebibliothek.org/library/jason-mcquinn-post-linke-anarchie